Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
zu unserer Gedenkstunde am heutigen Volkstrauertag heiße ich Sie herzlich willkommen.
Der Volkstrauertag geht auf die Weimarer Republik zurück. Ursprünglich war er ein Gedenktag für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten. Vorgeschlagen wurde er seinerzeit vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der ihn bis heute auch hier bei uns in Osnabrück begleitet und gestaltet. Dafür danke ich den Aktiven dieses wichtigen Verbandes sehr herzlich.
Der Volkstrauertag gehört seit deren Gründung aber auch zum Kanon der besonderen Tage, die in unserer eigenen Republik begangen werden, in unserer Bundesrepublik Deutschland. Aus gutem Grund, denn er ist längst kein Soldatengedenken mehr wie in den 1920er-Jahren. Er ist vielmehr ein Tag, an dem wir allen Opfern von Krieg und Diktatur gedenken, ob sie nun in Uniform gestorben sind oder als Zivilisten – oder ob sie ihr Leben verloren haben, weil sie aus politischen oder religiösen Gründen verfolgt und ermordet wurden oder weil sie zu Opfern des mörderischen Rassenwahns der Nationalsozialisten geworden sind.
In diesem Jahr haben wir in Osnabrück „375 Jahre Westfälischer Friede“ gefeiert. Das Jubiläum hatte viele schöne und viele fröhliche Momente, und so sollte es ja auch sein. Denn es ist ein durchweg positiver Anlass, an den wir erinnert haben: Im Oktober des Jahres 1648 ging von Osnabrück und unserer befreundeten Nachbarstadt Münster ein Friedensschluss aus, der den Schlusspunkt unter einen scheinbar endlosen Krieg setzte. Viele Menschen, die damals lebten, kannten nichts Anderes als Krieg. Für sie war Krieg seit ihrer Geburt eine grausame Selbstverständlichkeit. Doch nun herrschte auf einmal Frieden, der von den Menschen begeistert gefeiert wurde. Zumindest eine kleine Vorstellung, wie es damals wohl gewesen sein muss, haben wir vor wenigen Wochen beim Friedenssingen erhalten, dass hier vor der Tür unseres Rathauses stattgefunden hat. Vielleicht waren Sie ja auch dabei? Ich jedenfalls habe nicht nur einmal eine Gänsehaut bekommen.
Doch unser Jubiläum wurde auch spürbar überschattet. Denn leider herrscht im Jahr 2023 ja kein Frieden in der Welt. Es gibt vielmehr zahlreiche bewaffnete Konflikte auf verschiedenen Kontinenten der Erde, die dort – ähnlich wie damals der Dreißigjährige Krieg – schon lange zum Alltag gehören und bei uns beinahe schon in Vergessenheit geraten sind, zumindest aber nicht (oder nicht mehr) im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen. Wir sollten uns in meinen Augen trotzdem wenigstens ab und zu an sie erinnern, denn auch dort leiden und sterben Menschen!
Dennoch stehen derzeit zwei Kriege in unserem Fokus. Einer belastete unser Friedensjubiläum von Anfang an. Russlands brutaler und zutiefst völkerrechtswidriger Angriffskrieg dauert weiter an, und es gibt derzeit keine Anzeigen dafür, dass er bald enden könnte. Unsere Gedanken sind bei den Menschen in der Ukraine, die weiterhin für ihre Freiheit und den Fortbestand ihrer Kultur kämpfen müssen. Denn beides möchte ihnen der russische Diktator nehmen. Damit darf er einfach keinen Erfolg haben, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir nicht wollen, dass Krieg und Gewalt zunehmend wieder zu scheinbar völlig normalen machtpolitischen Option werden.
Der andere Krieg, dessen unfassbar grausame Bilder uns nur wenige Wochen vor dem Höhepunkt unseres Jubiläumsjahres erschütterten, tobt im Nahen Osten. Er wurde entfacht von der terroristischen Hamas, deren Angriffe auf israelische Zivilisten nur ein Ziel hatten: Möglichst viele Menschen möglichst grausam zu töten, um so eine Botschaft der Angst und des Schreckens auszusenden und um weiter an der Spirale des Hasses zu drehen. Die Terroristen haben aber nicht nur 1200 Israelis getötet, sondern auch viele Tausende Palästinenser. Indem sie nämlich ganz bewusst eine Reaktion Israels provoziert haben, von der sie genau wussten, dass sie alternativlos sein würde. Sie haben das getan, weil sie vorausgesehen haben, dass so der von ihnen und ihren Hintermännern gewollte Hass auf Juden im Allgemeinen und auf Israel im Besonderen nicht nur in der Region deutlich anwachsen würde, sondern weltweit.
Leider sieht es danach aus, dass dieser perfide Plan aufgegangen ist. Auch in Osnabrück gibt es leider Menschen, die in Israel einen hassenswerten Aggressor sehen. Es gibt aber auch einen Lichtblick. So ist es uns bislang gelungen, den Dialog der Religionsgemeinschaften aufrecht zu erhalten. Jüdische und muslimische Gemeindevertreter geben sich weiterhin die Hand und gehen respektvoll miteinander um. Dafür danke ich dem „Runden der Tisch der Religionen“, aber auch mehreren weiteren Akteuren.
Doch solange jüdische Eltern ihre Kinder auch in Osnabrück aus Angst nicht mehr in die Synagoge gehen lassen, ist der fortwährende Dialog nur ein kleiner Lichtblick, mehr nicht. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn ein Tag wie der heutige Volkstrauertag kein zur reinen Routine erstarrtes Ritual sein soll, an dem pflichtschuldigst der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedacht wird, „weil man das ebenso macht“ – sondern wenn es ein Tag sein soll, der wirklich Sinn ergibt, dürfen wir nicht nur an die Opfer von damals erinnern und anschließend wieder zur Tagesordnung übergehen. Wir müssen vielmehr völlig klar und unmissverständlich sagen, dass wir fest an der Seite unserer jüdischen Mitmenschen stehen, ob sie nun in Israel leben, in Deutschland oder anderswo auf der Welt.
Der Rat der Stadt hat das hier in diesem Saal am vorvergangenen Dienstag einstimmig klargestellt. Ich zitiere aus unserer Resolution:
„Unsere Gedanken und unser Mitgefühl sind bei den Angehörigen der Opfer und der Entführten sowie bei allen Menschen, die unschuldig unter diesem Krieg leiden. Wir stehen an ihrer Seite und sichern ihnen unsere volle Solidarität zu. Die Sicherheit Israels ist unverbrüchlicher Teil deutscher Staatsräson. Das Existenzrecht Israels ist unantastbar.“
Es ist mir wichtig zu betonen, dass wir natürlich auch um die zivilen Opfer im Gaza-Streifen trauern. Ihr Leid ist in diesen Tagen unbeschreiblich. Doch es muss klar sein, wer dieses Leid über sie gebracht hat. Und das ist nicht etwa Israel, wie leider auch in Osnabrück in diesen Tagen viel zu häufig behauptet wird. Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist die Hamas gewesen, die das Leid über diese Menschen gebracht hat. Alles andere ist eine perfide Täter-Opfer-Umkehr, der wir uns entschieden entgegenstellen müssen.
Das schulden wir nicht nur den heute lebenden Jüdinnen und Juden, die aktuell wieder Angst haben müssen, sich als Angehörige dieser Religionsgemeinschaft erkennen zu geben. Das schulden wir auch den Millionen Menschen, die dem Rassenwahn der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind.
An sie haben wir erst in der vergangenen Woche erinnert, am 9. November 2023, dem 85. Jahrestag der Reichspogromnacht, als auch in Osnabrück die Synagoge in Brand gesteckt und Juden drangsaliert und körperlich wie seelisch massiv verletzt worden sind. Dass wir an diesen Zivilisationsbruch an einem zuvor mit Kritzeleien geschändeten Mahnmal erinnern mussten, hat mich zutiefst empört und mit Wut und Traurigkeit erfüllt.
Hoffentlich werden wir in ein paar Jahren in der Rückschau sagen, dass das Jahr 2023 in vielerlei Hinsicht ein Weckruf gewesen ist. Vielleicht haben wir es uns ja wirklich zuletzt zu sehr in unserer Erinnerungskultur bequem gemacht, so paradox das auch klingen mag. Vielleicht war vieles tatsächlich nur noch ein wohlfeiles Ritual der Selbstbestätigung. Ein Pflichttermin, den es eben abzuhandeln galt, ohne mit dem Herzen bei der Sache zu sein.
Nein, meine sehr geehrten Damen und Herren, die Erfahrungen der letzten Wochen und Monate zeigen, dass es eben keine Pflichtübung ist, an die Vergangenheit zu erinnern. „Nie wieder“ – das ist kein Schnee von gestern. „Nie wieder – das ist jetzt.“
Wenn wir das jetzt nicht begreifen, können nicht nur wir in Osnabrück die Friedensstadt von unserem Ortsschild kratzen, wie ich bereits während der jüngsten Ratssitzung betont habe. Wenn wir das jetzt nicht begreifen, dann ist die ganze Bundesrepublik Deutschland, die ein Gegenentwurf zum NS-Regime sein sollte – die es besser machen wollte als die an ihren inneren Feinden gescheiterte Weimarer Republik –, lediglich eine traurige Farce. Dann ist „Einigkeit und Recht und Freiheit“ nichts als eine hohle Phrase. Lassen Sie es uns bitte nicht soweit kommen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wohl noch nie war der Volkstrauertag so wichtig wie heute. Lassen wir ihn uns gemeinsam mit dem Herzen begehen. Denn wenn uns das nicht gelingt, hätte dieser Tag keine Berechtigung mehr. Und das, meine sehr geehrten Damen und Herren, wäre nichts weniger als eine entsetzliche Tragödie.